Wir befinden uns im Jahre 2022 nach Christus. Ganz Europa beschließt die Erweiterung des Schengen-Raumes. Ganz Europa? Nein! Ein von unbeugsamen Galliern bevölkertes Dorf Österreichern bevölkerter Staat hört nicht auf, Widerstand zu leisten. Und genau wie für die Legionäre in den Asterix-Comics ist das Leben für die Exekutiven der anderen EU-Staaten nicht leicht, wenn sich eine nationale Regierung alleine¹ gegen den allgemeinen Willen der anderen Länder richtet. Allem Anschein nach – wie so oft – aus politischem Kalkül. Ein Beitrag über parteipolitische Taktik, Landtagswahlen und Sicherheit.
Der Schengen und seine Grenzen
Wer das Wort „Schengen“ hört, denkt wahrscheinlich an den Geographieunterricht in der frühen Oberstufe. Ein gemeinsamer Raum innerhalb Europas, dessen Außengrenzen das beschützen sollen, was innen so kostbar ist: Sicherheit und Freiheit. Tatsächlich war es bereits eines der ersten Ziele der Europäischen Union (und seinen Vorgänger-Versionen), die Binnengrenzen zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten so gut wie möglich fallen zu lassen, freier Personenverkehr sollte innerhalb der EU ein Muss sein. Selbiges gilt aber nach außen ganz und gar nicht – strenge Kontrollen an den Außengrenzen sollen im Namen der Sicherheit all das schützen, was die Mitgliedstaaten des Schengenabkommens innerhalb der Zone aufgeben. Dass jeder Staat, der Teil der Europäischen Union ist, auch Teil dieser Sicherheitszone sein will, erscheint logisch, bringt doch der Abbau von Grenzhindernissen innerhalb einer supranationalen, politischen Zusammenarbeit einige Vorteile und kaum Nachteile, sofern am Ende des Schengens doppelt und dreifach kontrolliert wird. Mit genau dieser Logik gingen auch die Vertreter von Rumänien, Bulgarien und Kroatien in die Beitrittsverhandlungen – nur einer hatte ein Problem damit.
Karner als Spielverderber
Der Innenminister der Republik Österreich hatte sich, als im Rat der EU über die Teilnahme der drei genannten Staaten abgestimmt wurde, zweimal als faules Ei im europäischen Omelette positioniert: Kroatiens Ansuchen segnete er zwar im Namen der Republik ab, Bulgarien und Rumänien zeigte er jedoch den metaphorischen Stinkefinger. Die Begründung war so einfach wie aufgelegt: Sicherheitsbedenken. Gerhard Karner blieb hart, verwies auf die seiner Meinung nach hohe Anzahl an illegalen Grenzübergängen (bis zu 100.000) im abgelaufenen Jahr und wiederholte die alte Narrative, dass das Schengensystem nicht funktioniere – und schon gar nicht erweitert werden sollte. Bei den Regierungsvertretern Rumäniens und Bulgariens sorgte das Vorgehen Österreichs und vor allem die gelieferte Begründung für Verwirrung: Rumänien erfüllt alle (ohnehin hohen) technischen und administrativen Voraussetzungen um der Schengenzone beizutreten, die hohe Anzahl an illegalen Grenzübergängen nach Österreich ist eindeutig eine nationale Angelegenheit, die nicht mit den zwei Beitrittskandidaten in Verbindung gebracht werden kann. Noch absurder wird das Veto, wenn man sich die Beteuerungen von Innenminister Karner und Bundeskanzler Karl Nehammer Anfang des Jahres in Erinnerung ruft, den Beitritt Rumäniens und Bulgariens innerhalb des Jahres 2022 sicher über die Bühne bringen zu können. Woher der Sinneswandel?
Die wichtigste Wahl Europas
Dass dem hiesigen Innenminister die Sicherheit des Landes am Herzen liegt, ist zu hoffen. Sich deshalb gegen die Erweiterung der Schengen-Zone zu positionieren, eher kontraproduktiv. Aber es bringt zwei Vorteile für die politisch angeschlagene Partei, die derzeit das zuständige Ministerium besetzt: Erstens lenkt ein derart medienwirksamer Alleingang von den restlichen Sorgen ab, welche die Volkspartei derzeit so plagen. Stichworte U-Ausschuss, Schmid und Umfragen. Ein derartig wirksames Ablenkungsmanöver war beispielsweise schon 2021 zu beobachten, als das ÖVP-geführte Außenministerium während des erneut aufflammenden Nahost-Konfliktes die israelische Flagge hissen ließ, entgegen der historischen österreichischen, neutralen Vermittlungsrolle² zwischen Israel und Palästina. Zweitens – und hier wird die Angelegenheit politikwissenschaftlich hoch interessant – steht in zirka einem Monat die Landtagswahl in der bedeutendsten Hochburg der ÖVP an: Niederösterreich. Ob der Innenminister, obwohl er im Auftrag der Republik arbeitet, wohl weiß, wie die Ausgangslage „seiner“ Partei im bis Dato tiefschwarzen Bundesland aussieht? Der grüne Klub-Europasprecher Michael Reimon hat es bitterböse auf den Punkt gebracht: Es warten „die wichtigsten Wahlen Europas seit mindestens fünf Jahren„.
Dauerbrenner Asyl & die absolute Mehrheit
Johanna Mikl-Leitner, als schwarze Landeshauptfrau ihres Zeichens einer der mächtigsten Köpfe ihrer gesamten Partei, liest Umfragen – und schwitzt. Seit geraumer Zeit verliert die ÖVP, vermutlich bedingt durch die sich häufenden Skandale. Die absolute Mehrheit im größten bürgerlichen Wählerpool ist nahezu sicher dahin, man wird erstmals seit langer Zeit schmerzhafte Kompromisse mit anderen Parteien machen müssen. Den freien Fall kann und muss die Partei aufhalten – da bietet sich etwas an, was unter Bundesparteiobmann Sebastian Kurz so prächtig funktioniert hat³: Das ewige Asylthema. Wie sich zeigt, ist den österreichischen Wählern, vermutlich durch den Ukraine-Krieg bedingt, Sicherheit (und damit verbunden die Asylpolitik) wieder wichtig. Und auch wenn sich über die Sinnhaftigkeit eines Vetos zum Schengenbeitritt Rumäniens und Bulgariens als Maßnahme der Sicherheit & Asylpolitik debattieren lässt, stellt es doch in jedem Fall eine Positionierung dar. Was die FPÖ in dieser Thematik seit Jahren schafft, genauso wie die Grünen beim Umweltschutz, bietet sich für die ÖVP (wieder) bei einer restriktiven Migrationspolitik an. Ob wirkliche Expertise in all diesen Parteien vorhanden ist, ist absolut zweitrangig. Oft ist die Präsenz in einem Diskurs allein schon Grund genug, um einen Wähler zu einer bestimmten Stimmabgabe zu nudgen, dessen sind sich auch die führenden Figuren der ÖVP bewusst und besetzen dementsprechend eine Position in einer wichtiger werdenden öffentlichen Debatte. Gerhard Karner streitet den auffallenden Zusammenhang zwischen seinem Abstimmungsverhalten und den Landtagswahlen natürlich ab.
Ein Innenminister der bei einer überstaatlichen Entscheidung im Sinne seiner eigenen Partei opportunistisch handelt, ob es das wirklich geben kann?
¹ Streng genommen war Österreich nicht alleine mit seinem Veto. Der Regierungsvertreter der Niederlande (ebenfalls ein Christdemokrat) schloss sich dem Alleingang Österreichs an, allerdings auf Karners federführende Argumentation hin. Die Begründung war allerdings etwas anders, auch die Asterix Anspielung würde sonst nicht mehr so gut funktionieren :D.
² Unter Kreisky positionierte sich die damals noch junge Zweite Republik im Sinne der (mehr oder weniger) immerwährenden Neutralität als Vermittler im Nahen Osten. Mit der ÖVP (und auch FPÖ) im Außenministerium der letzten Jahre etablierte sich allerdingings ein stark pro-israelischer Diskurs, was sich vermutlich im Falle beider Parteien auf die Islamophobie ihrer neueren Parteiprogrammatik zurückführen lässt. Fairnesshalber sei erwähnt, dass die Republik Österreich Palästina nicht als Staat anerkennt und demensprechend auch nirgendwo die Fahne Palästinas hissen kann. Es wäre allerdings auch eine Möglichkeit, einfach gar keine Fahne einer Konfliktpartei zu hissen, im Sinne der Neutralität.
³ Ob wirklich das Asylthema damals so viele Wählerstimmen brachte, ist hoch umstritten. Einer Studie zufolge bekommen christdemokratische Parteien durch die Übernahme rechtspopulistischer Inhalte interessanterweise keine signifikanten Zuwächse (Stichwort frühe Positionierung!), das einzige Beispiel in Europa, wo es anders war: Die ÖVP. Als einziger Ausreißer im Sample lässt dies auf den Einfluss von Drittvariablen schließen, in diesem Falle heißt diese Variable vermutlich Sebastian Kurz, dessen Person alleine für viele Menschen wahlbegründend war. Warum die ÖVP trotzdem wieder auf das Asylthema setzt, lässt sich vermutlich damit begründen, dass sie sich dessen einfach nicht bewusst sind (oder sie andere Motive haben).