„Gewidmet dem großen Bundeskanzler und Erneuerer Österreichs“, dieser auf einer Steintafel vor dem Engelbert-Dollfuß-Museum eingravierte Satz wird dem neuen Innenminister Gerhard Karner (ÖVP) wohl noch lange nachhängen. Als ehemaliger Bürgermeister von Texingtal musste ihm das Museum im Geburtsort des austrofaschistischen Diktators gut bekannt sein, hatte er es doch mit der Gemeinde mitfinanziert. Vor seiner Ernennung zum Bundesminister für Inneres entbrannte daraufhin im politischen Diskurs der sozialen Medien, aber auch in Print- und Onlinezeitungen eine intensive Debatte, nicht nur über Karners Verhältnis zum Dollfuß-Regime, sondern auch über das allgemeine Geschichtsverständnis der Volkspartei. Was geschah zur Zeit des austrofaschistischen Ständestaats und warum ist es ratsam, sich als Minister davon soweit wie nur möglich zu distanzieren?
Als das Parlament ausgeschaltet wurde
Das Thema Austrofaschismus ist bis heute kontrovers. Ich kann mich noch gut erinnern, als ich als 13-Jähriger im Geschichtsunterricht das erste mal das Wort „Ständestaat“ hörte und mich altersgerecht daran amüsierte, ein „r“ in dieses Wort zu packen. Zwar wurde in meiner Schulzeit gelehrt, was in den 1930er Jahren in Österreich passierte, die Zeit des Nationalsozialismus hatte im Lehrplan aber verständlicherweise eine derart wichtige Rolle, dass die Namen Dollfuß und Schuschnigg in deren Hintergund rückten. Erst als ich mich akademisch mit dem Thema auseinandersetzte, wurde mir bewusst, wie unterschiedlich die Bürger, aber auch Historiker¹ diese Zeit beurteilen. Am 4. März 1933 nutzte der damalige Bundeskanzler Engelbert Dollfuß eine Pattsituation im österreichischen Parlament der Ersten Republik, die zu einer gerne als „Selbstausschaltung„² des Parlaments bezeichneten Situation führte, um die heimische Legislative mit Waffengewalt an ihrer weiteren Gesetzgebung zu hindern und verschaffte sich in diesem Vakuum eine diktatorische Macht. In Folge der darauf aufbauende Staatsumstrukturierungen kam es zu den Februarkämpfen 1934, in denen sich auf der einen Seite der sozialdemokratische, paramilitärische „Republikanische Schutzbund“ sowie auf der anderen Seite die dem christlichsozialen Lager nahestehende „Heimwehr“ und die Dollfuß unterstehende Staatsgewalt heftige Schlachten lieferten. Als Engelbert Dollfuß bereits 1934 von nationalsozialistischen Attentätern ermordet wurde, übernahm sein Justizminister Kurt Schuschnigg die Führungsposition bis zum Anschluss 1938.
Interpretationssache oder Relativismus?
Über die Einordnung des Austrofaschismus scheiden sich bis ins 21. Jahrhundert die Geister. In der sozialdemokratischen Bewegung hat sich Engelbert Dollfuß – auch heute noch – den Spitznamen „Arbeitermörder“ eingefangen, da er die Widerstandskämpfer des Republikanischen Schutzbundes in aller Öffentlichkeit hinrichten ließ, auch der Wiener Gemeindebau wurde unter seiner Führung mit Artilleriegeschützen beschossen. Im traditionell starken christlichsozialen Lager kommt der Ständestaat teils besser weg: Dollfuß habe eine schlecht funktionierende Demokratie zu einer katholischen Diktatur umgewandelt, in einer Zeit, als diktatorische Verhältnisse in Europa keine Seltenheit waren. Auch sein Widerstand gegen einen Anschluss an das Deutsche Reich wird ihm im konservativen Lager Zugute gehalten. Für Dollfuß war Österreich der „bessere deutsche Staat„, sein Verhältnis zu Adolf Hitler war mehr als angespannt. Sein Nachfolger, Kurt Schuschnigg, schaffte es tatsächlich die Verbrechen seines Regimes im österreichischen Geschichtsverständnis zu kaschieren, indem er sich 1938 beim Anschluss an Hitlers Nazi-Deutschland mit einer Rede an die Bevölkerung wante, die er mit den Worten „Gott schütze Österreich!“ beendete. Für die heimischen Historiker ist die Einordnung des diktatorischen Ständestaats allerdings keine Interpretationssache: Antisemitismus, drakonische Strafen für politische Gegner und das Aushebeln der Demokratie sprechen eine klare Sprache, für die ÖVP als größte konservative Partei des Landes offensichtlich nach wie vor ein Wörterbuch braucht.
Vergangenheitsbewältigung
Wer glaubt, dass das Regime der damaligen Einheitspartei „Vaterländische Front“ im heutigen Parlamentarismus von allen Fraktionen kritisch beurteilt wird, irrt. Bis zum Jahre 2017 hing im Klubraum der ÖVP ein Portrait von Kanzler Engelbert Dollfuß, erst der Umbau des Parlaments bewegte die Volkspartei dazu, das Bild dem Museum Niederösterreich zu überreichen – als Leihgabe. Führende Kräfte bei der Gründung der Partei im Jahre 1945 waren unter anderem Leopold Figl und Julius Raab, die beide in ihrer Vergangenheit Positionen innerhalb der Vaterländischen Front (und damit dem Dollfuß-Regime) hatten. Bis vor wenigen Jahren war auch die Dollfuß-Messe im Bundeskanzleramt ein jährlicher Fixtermin für den jeweiligen österreichischen Bundeskanzler – auch die SPÖ beteiligte sich daran. Das Verhältnis der Politik zur Persönlichkeit des Texingtalers ist bis in die moderne Zeit eigenartig: Wie so oft in der heimischen Geschichte – sei es Andreas Hofer, Kurt Schuschnigg oder so gut wie jeder Habsburger – entsteht ein sentimentaler Staatskult um historische Figuren, die ihr Wirken in Österreich hatten. So kam es auch zum Eklat, als Gerhard Karner zum Innenminister der Republik Österreich ernannt wurde. Der ehemalige Bürgermeister von Texingtal wollte bereits 2018 die „umstrittene Person Dollfuß“ in seinem Museum näher beleuchten, für Experten ein gefährliches Unterfangen, da „umstritten“ eine äußerst starken relativistischen Unterton hat.
Wenn das Museum zur Gedenkstätte wird
Geschichtsrelativismus ist ein Thema, von dem sich Politiker, egal ob sie auf kommunaler- oder Bundesebene arbeiten, möglichst fern halten sollten. Die Einordnung von zeitgeschichtlichen Persönlichkeiten liegt Historikern und der Wissenschaft an sich wesentlich besser. Erstere beurteilen das Dollfuß-Museum in Texingtal als Gedenkstätte über den Umweg eines Museums. Das konservative Narrativ vom „mutigen Patrioten“, der sich dem Nationalsozialismus widersetzte, wird unkritisch weitergetragen. Kontakt zu akademischen Experten hat es bei der Eröffnung des Museums 1998 keinen gegeben. Karner, der in der Vergangenheit schon durch die Verwendung antisemitischer Codes in Bezug auf die SPÖ negativ in den Schlagzeilen war, mutierte vor wenigen Tagen vom Kommunal- zum Bundespolitiker. Dass sich der neue Innenminister als Organ der Republik Österreich so weit wie möglich von einer Person distanzieren sollte, welche den demokratischen Rechtsstaat ablehnte, ist für mich keine Frage der Parteizugehörigkeit, sondern des modernen Rechtsverständnisses. Und auch ein Museum, in dessen Gästebuch Grußformeln von CV-Verbindungen wie „Lieber tot, als die Alpen rot“ stehen, sollte wegen seiner Rolle als Pilgerstätte für Geschichtsrevisionisten hinterfragt werden.
Die Rede von Kurt Schuschnigg bezüglich des Einmarsches der deutschen Truppen im Jahre 1938 als Audio: https://www.mediathek.at/atom/015C6FC2-2C9-0036F-00000D00-015B7F64
¹Anders als bei der Beurteilung des Austrofaschismus durch die normale Bevölkerung geht es in den Diskussionen der Historiker eher um die Frage, wie faschistisch der Austrofaschismus wirklich war. Dabei handelt es sich nicht um polemische Wertungsfragen, sondern die begriffliche Kategorisierung durch die Wissenschaft. Faschismus ist ein relativ inhaltsleerer Ober- und Sammelbegriff, der für verschiedene Strömungen benutzt wird (zb im Spanien der 30er Jahre, aber auch der deutsche Nationalsozialismus ist faschistisch).
²Die historische Bezeichnung „Selbstausschaltung des Parlaments“ 1933 ist missverständlich. Tatsächlich sind innerhalb einer Parlamentssitzung alle drei Nationalratspräsident zurückgetreten, da sie dadurch eine zusätzliche Stimme für ihre jeweilige Partei bekommen haben, die sie als Vorsitzende nicht hatten. Die fast gleichen Mehrheitsverhältnisse bei einer Abstimmung sollten so entscheidend verändert werden, die Sitzung konnte allerdings nicht mehr ordnungsgemäß beendet werden, da dafür zumindest ein Präsident notwendig war. So gesehen machte sich der Nationalrat damals wirklich handlungsunfähig, es gab jedoch Mechanismen um eine geordnete Zusammenkunft wieder zu ermöglichen. Als der Dritte Nationalratspräsident, Sepp Straffner, einige Tage nach dem Vorfall seinen Rücktritt zurücknehmen wollte um der Legislative seine Handlungsmacht wieder zu geben, verhinderten Dollfuß‘ Truppen dies jedoch mit Waffengewalt. So gesehen handelte es sich nicht um eine „Selbstausschaltung„, sondern eine reine Geschäftskrise die benutzt wurde, um diktatorische Verhältnisse zu schaffen.