Österreich ist schon ein besonderes Land. Nicht nur wegen der einzigartigen Natur, der lebenswertesten Stadt der Welt – Wien – und den vielen eigenartigen Regionen und Dialekten. Österreich hat auch die interessante Eigenschaft, ein Staatsvolk zu beherbergen, dass sich aus 8,9 Millionen Experten zusammensetzt: Im März 2020 wurden wir alle Virologen, im Juni 2021 bei der EM bis zum Ausscheiden gegen Italien Teamchefs des Fußball-Nationalteams und seit einigen Wochen, als die Diskussion um die Impfpflicht volle Fahrt aufnahm, Verfassungs- und Grundrechtsexperten. Letzteres ist für mich besonders problematisch, beschäftige ich mich doch universitär bereits über 4 Jahre mit dem Thema – trotzdem bin ich kein Experte. Ein Beitrag über Grundrechte, wie man sie einschränken kann und warum es wichtig ist, die Grenzen der eigenen Fähigkeiten zu erkennen (und zu akzeptieren).
Grundbedingungen & Abwehrrechte
Im modernen Staatsleben stellen Grundrechte wichtige Regeln dar, um das staatliche Handeln einschränken zu können. Die Wurzeln der Abwehrrechte gehen allerdings bis ins 13. Jahrhundert zurück: In der ‚Magna Carta“ sicherten sich die Engländer bereits im jahre 1215 Schutz vor königlicher Willkür, die Niederländer machten es ihnen rund dreihundert Jahre gleich. Die ohne Zweifel bekannteste Niederschrift ist allerdings die US-amerikanische „Virgina Bill of Rights“, die 1776 im Zuge der Unabhängigkeitserklärung ausgearbeitet wurde und als erster Vorläufer für das moderne Verständnis verfassungsmäßig garantierter Rechte gilt. Als sich dann, von der französischen Revolution ausgehend, das Konzept über ganz Europa bis nach Österreich ausbreitete, begannen im Kaiserreich neben den Bürgern auch Philosophen und Staatsmänner mit dem Vorhaben, allgemein anerkannte Rechte in Form von Gesetzen festzuhalten, welche die Macht der Monarchen einschränkte. Das erste große Endergebnis ist bis heute in Kraft: Das Staatsgrundgesetz von 1867 (StGG) normierte bereits zu autokratischen Zeiten, dass vor dem Gesetz alle Staatsbürger gleich sind und sie unter anderem ihre Religion frei wählen sowie ihre Meinung äußern dürfen. Die Rechtsdurchsetzung war zwar damals noch ausbaufähig, der Grundstein für die weitere Entwicklung war jedoch gelegt.
Zersplitterung & Einschränkung
Das philosophische und rechtliche Konzept der Grundrechte tritt im Österreich des 21. Jahrhunderts in zwei besonderen Formen auf: Auf der einen Seite ist es relativ eigen, dass es hierzulande kein geschlossenes Grundgesetz gibt, sondern sich die Grundrechte aus vielen Quellen ergeben. Neben dem Staatsgrundgesetz von 1867 wurde beispielsweise auch die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten – kurz EMRK – des Europarates, genauso wie die Grundrechtecharta der Europäischen Union in den Verfassungsrang gehoben, beide sind somit maßgeblich für jene Diskussion, welche die andere Erscheinungsform des Konzeptes in unserer heutigen Zeit darstellt: Wie weit darf der Staat gehen, um eine Pandemie einzudämmen, die uns seit bald zwei Jahren beschäftigt? Österreich hat hier unter den demokratischen Staaten Europas als erster einen Schritt ins Ungewisse gewagt und eine Impfpflicht für Februar 2022 angekündigt, die im öffentlichen Diskurs sowohl von Befürwortern als auch von Kritikern immer wieder als „grundrechtseinschränkend“ bezeichnet wird. Unabhängig von den Standpunkten der 8,9 Millionen Experten bleibt die Frage, was der Österreicher wirklich über das Thema weiß und was er eher für seine argumentativen Zwecke benutzt, wie so oft offen.
Laien & Experten
Oft wird in den Familiendiskussionen, Sozialen Medien aber auch simplen Kaffeehausrunden verschwiegen, was der „Staat“, so abstrakt und komplex er auch sein mag, für eine maßgebende Grundaufgabe hat: Schutz. All seine Staatsbürger (und wenn es um die Menschenrechte geht auch Nicht-Staatsangehörige) sollen darauf vertrauen können. Dazu gehört auch, eine öffentliche Ordnung zu wahren und das medizinische System des Landes aufrecht zu erhalten. Wenn es notwendig ist, verfassungsmäßig garantierte Rechte dafür einzuschränken – und eine Impfpflicht schränkt definitiv ein Grundrecht ein – darf das die Politik, so ist es auch in den Rechtsquellen festgeschrieben. Als die regierenden Verantwortlichen das Tabuthema „Impfpflicht“ angehen wollten, waren sie sich der Einschränkung der persönlichen Freiheit bewusst. Genau aus diesem Grund wurden zur gesetzlichen Ausarbeitung des Themas nicht nur Ärzte, Virologen und zwei der drei Oppositionsparteien miteinbezogen, sondern auch die Granden des österreichischen Verfassungsrechts wie etwa Heinz Mayer, seines Zeichens ehemaliger Dekan der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Uni Wien. Sein Fachkollege, Karl Stöger, sprach davon, dass es unter den österreichischen Verfassungsjuristen bereits seit Langem den breiten Konsens gibt, dass eine Impfpflicht als letztes Mittel zur Pandemiebekämpfung auf jeden Fall zulässig wäre.
Wir sind (fast) alle keine Experten
Was bedeuten diese Entscheidungen der letzten Wochen für die Zukunft? Die einen sprechen vom Ende der Corona-Pandemie, die anderen von gefährlichen Präzedenzfällen für weitere Einschränkungen. Für mich ist klar: Menschen, die sich jahrzehntelang kritisch und vorallem wissenschaftlich mit den Problemen dieser Welt auseinandergesetzt haben, sind Experten. Wir anderen, die einfach nur an einem komplexen, schwer durchschaubaren Diskurs (freiwillig wie unfreiwillig) teilnehmen, sind es nicht. Genauso wichtig, wie für die Grundrechte einzustehen, ist vermutlich auch, sich bewusst zu werden, das die eigene Einsicht in so ein kompliziertes Thema begrenzt ist. Dann kann man auch beruhigter jenen Menschen die Entscheidungen in die Hände legen, die mehr wissen.