Wird Deutschland von der „Grünen Welle“ erfasst?

Am 26. September ist es wieder so weit. Deutschland, der bevölkerungsreichste Staat der Europäischen Union, wählt seine gesetzgebende Gewalt, den Bundestag. Während diese Wahl unter der Kanzlerschaft von Angela Merkel meist unspektakulär und vorhersehbar war, sorgen Wahl-Umfragen knapp sechs Wochen vor dem entscheidenden Tag für Diskussionsstoff: Ein Machtwechsel, schwächelnde Koalitionsparteien und aufstrebende Kleinparteien kündigen sich an. Überrollt die „Grüne Welle“ auch Deutschland? Ein Beitrag über die Bundestagswahl 2021, die antretenden Parteien und den Vergleich zu Österreich.

Ein schwerer, schwarzer Rucksack

Armin Laschet ist nun wirklich nicht zu beneiden. Ganz abgesehen davon, dass der als relativ liberal geltende Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen die langjährige „Staatsmutti“ Angela Merkel als Bundeskanzler ablösen soll, was angesichts ihrer weitreichenden Beliebtheit über Parteigrenzen hinweg allein eine schwierige Aufgabe wäre, musste er sich im Vorfeld noch in den internen Vorwahlen für die Spitzenkandidatur der CDU und CSU (kurz: Union) gegen den als Rechtspopulisten geltenden bayrischen Ministerpräsidenten Markus Söder durchsetzen. Das gelang dem als gemäßigt geltenden Katholiken zwar, der Kampf um die Krone innerhalb der christlichen Konservativen im April war jedoch ausgeglichener, als man vermuten würde – und hinterließ einige Narben am Image Laschets. Im Laufe der letzten Monate kamen dann noch einige peinliche TV-Momente dazu, mit denen der Spitzenkandidat sich und seine Partei nicht gerade mit Ruhm bekleckerte: Die Union steht derzeit in den Umfragen mit 22 bis maximal 27 Prozent vor dem Problem, dass sie nicht nur ihre Spitzenposition gefährdet, sondern sich selbst mit Attacken auf den voraussichtlichen Profiteur der Wahl, dem Bündnis 90/Die Grünen, für Koalitionsverhandlungen in eine schlechte Position bringt. Der Vergleich mit der österreichischen „Schwester“, der ÖVP, ist eigentlich erschreckend. Unter Sebastian Kurz schaffte es die große heimische konservative Partei bei der Nationalratswahl 2019, die Konkurrenz mit 37% der Stimmen weit hinter sich zu lassen. Der Unterschied zur deutschen Union liegt klar in der polarisierenden Person von Kurz, die es schaffte, der alten, ewig gleichen Volkspartei einen jugendlichen Anstrich zu geben, zumindest oberflächig. Ob ein Kurswechsel der CDU hin zu rechtspopulistischen Positionen, ähnlich wie es die ÖVP tat, helfen würde, ist allerdings höchstfraglich. Einer empirischen Studie zufolge profitieren die europäischen Konservativen nämlich nicht von einer verschärften Asylpolitik und nationalistischeren Werten, also brächte ein inhaltlicher Wandel der deutschen Union unter der anderen schillernden Figur der Partei, Markus Söder, ebenfalls nicht die erhoffte Wunderlösung. Lediglich der Versuch, sich als klimabewusst zu positionieren, blieb der konservativen Partei unter Armin Laschet. Angesichts der verschlafenen Umweltpolitik der letzten Jahrzehnte seitens der CDU scheint dies bei den Wählern allerdings nur auf wenig Glaubwürdigkeit zu stoßen.

Wer wählt (noch) die SPÖ SPD?

Während die Stimmungslage 2019 bei der ÖVP und 2021 bei der CDU nicht unterschiedlicher sein könnte, befindet sich die deutsche Sozialdemokratie in Form der SPD in einer ähnlich misslichen Lage wie die SPÖ hierzulande. Nach weiteren vier Jahren als Juniorpartner in einer großen Koalition mit der CDU, welche von Anfang an eher negativ als positiv im öffentlichen Diskurs wahrgenommen wurde, gilt eine weitere Legislaturperiode in dieser Konstellation quasi als ausgeschlossen. Die prognostizierten, starken Verluste der zwei alten Parteien sind zu massiv, um wieder eine Regierung zu bilden, jedenfalls ohne einen weiteren Partner. Ähnlich wie die SPÖ wollten sich die deutschen Sozialdemokraten unter dem Motto „Zukunft-Respekt-Europa“ ein neues Image verpassen, um sich von der Konkurrenz abzuheben. Die berechtigte Frage dabei: Wie unterscheiden sich die Positionen der SPD denn überhaupt von jenen der anderen Parteien? Wirtschaftlich erinnert das Parteiprogramm an jenes der CDU, lediglich die geforderte Steuerreform (unter anderem mit Vermögenssteuern) hat einen klassischen, sozialdemokratischen Touch. Der Fokus auf eine gerechtere Sozialpolitik ist ebenfalls nicht sonderlich original, „Die Linke“ – eine deutsche Partei die es so in unserem Parteiensprektrum nicht gibt – predigt dies seit Jahren und ist auf dieser Vertrauensbasis vermutlich attraktiver für die Wähler. Ganz zu Schweigen vom roten Klimaschutz im Wahlprogramm: Parteien, die in diesen Zeiten keinen Wert auf eine Veränderung der Klimapolitik legen, gibt es nicht. Als jahrzehntelanges Flaggschiff der deutschen Grünen stellt sich aber auch hier die Frage, warum man eher die SPD wählen sollte, wenn einem dieses Thema wichtig ist. Der Vergleich mit der österreichischen SPÖ liegt also nahe. Das Motto „Menschlichkeit siegt!“ brachte bei der Nationalratswahl wenigsten knapp 22 Prozent der Stimmen, die SPD liegt in Umfragen derzeit bei 16 bis 19 Prozent – und Spitzenkandidat Olaf Scholz gab als Ziel nichts weniger als die Kanzlerschaft aus. Mutig, aber fraglich.

Die grüne Welle – oder verbockts Baerbock?

Für das größte Aufsehen im Wahlkampf sorgt derzeit das Bündnis 90/Die Grünen. Die deutsche Variante der österreichischen Grünen polarisiert derzeit stark, steht dabei zwischen Trend und Kritik. Auf der einen Seite profitiert die ökosoziale Partei offensichtlich von der anhaltenden Umweltthematik, schließlich waren es immer die europäischen Grünen Alternativen, die vor den verheerenden Auswirkungen des Klimawandels gewarnt haben, und das schon lange vor den „Fridays-for-Future“-Bewegungen oder den aktuellen Bränden in der Mittelmeerregion. Auf der anderen Seite wird die Partei von ihren Konkurrentinnen strategisch attackiert. Wie bereits erwähnt sieht CDU-Spitzenkandidat Armin Laschet im Bündnis 90 den entscheidenden Gegenspieler in dieser Wahl. Die Vorwürfe werfen Fragen auf: Meist wird kritisiert, dass die Maßnahmen der Grünen gegen die drohende Klimakatastrophe mit zu wenig politischer Expertise ausgearbeitet wurden, genauso bedrohe das Parteiprogramm die deutsche Wirtschaft und schädige vor allem den „kleinen Mann“. Inwiefern sich Parteien wie die CDU, SPD oder FPD, die in den letzten Jahren allesamt Regierungsbeteiligungen vorzuweisen haben, bisher klimapolitisch engagiert haben, weiß keiner. Dementsprechend können sich die Grünen derzeit in Umfragen auf bis zu 22% der Stimmen einstellen, was sie erstmalig zur zweitstärksten Fraktion im Bundestag machen würde. Eine Regierungskonstellation ohne die Partei scheint nach der Wahl nahezu ausgeschlossen zu sein. Die einzige Unkonstante: Die interne Spitzenkandidatin Annalena Baerbock. Sie sieht sich in ihrer Person oft mit Angriffen der wirtschaftsliberalen Parteien konfrontiert, auch in ihrer Vergangenheit wird nach Stoff für Kritik gesucht. Für die potentiellen Wähler des Bündnis 90 könnte aber vorallem ihr unentschlossenes Auftreten ein Problem sein. Obwohl Baerbock durchaus eine praxiserprobte Politikerin ist, wirkt sie in den entscheidenden medialen Momenten manchmal zu unsicher. Der Frage, ob sie die erste grüne Bundeskanzlerin sein wird, weicht sie gekonnt aus. Bei den derzeitigen Umfragewerten ist dies jedoch durchaus wahrscheinlich.

Die „Anderen“ als Key-Player

Daneben gibt es natürlich noch weitere Parteien, die sich der Bundestagswahl im September stellen werden. „Die Linke„, die rechtspopulistische AfD, sowie die liberale FDP schwanken derzeit jeweils zwischen 7 und 12 Prozent der Stimmen und werden damit für eine interessante Konstellation nach der Wahl sorgen. Denn die Tatsache, dass die Parlamentssitze auf 6 Parteien verteilt sein werden, deren Stimmenanteil dementsprechend relativ gering voneinander abweicht, macht nach derzeitigem Stand eine Zwei-Parteien-Koalition nahezu unmöglich. Weder CDU-SPD, noch CDU-Grüne, oder sonst eine derartige Zusammenarbeit kommt über 50% der Sitze im Bundestag. Die „kleinen“ Parteien werden so in eine vorteilhafte Position versetzt, in der ihr Mitwirken in einer Dreierkoalition am attraktivsten für die Großparteien ist, da eine Zusammenarbeit mit einer stimmenmäßig kleinen Partei in der Regel mehr Ministerposten für die Großen bedeutet. Ehe eine riesige schwarz-rot-grüne Regierung zustande kommt, werden sich zum Beispiel die CDU und SPD mit der kleineren, liberalen FPD absprechen, und können so mit mehr Regierungsposten rechnen, die FPD hat dann zwar eine geringe, aber zumindest vorhandene Handlungsmacht. Insgesamt ergibt sich so eine Vielzahl von möglichen Koalitionen, die teilweise ideologisch wenig Sinn ergeben, aber machtpolitisch für die beteiligten Parteien interessant sein könnten. Aufgrund des noch andauernden Wahlkampfes könnten sich die Stimmverhältnisse allerdings noch empfindlich ändern. Zum Vergleich: Nach der Nationalratswahl 2019 in Österreich waren die Rollen wesentlich klarer verteilt, wie ich in diesem Artikel bereits beschrieben habe. Eine Koalition ohne die ÖVP war aufgrund ihrer starken 37% schwer möglich, die FPÖ empfand ihrer schlechtes Wahlergebnisse nicht als Regierungsauftrag und die SPÖ/ÖVP-Variante hat in Österreich mittlerweile einen mehr als schlechten Ruf. Blieben noch die Grünen als Juniorpartner in der neuen Koalition, welche mit knapp 14% den geringsten Machtverlust in einer Zusammenarbeit für die Partei von Sebastian Kurz bedeutet. Wer nach dem 26. September in Deutschland regieren wird, ist hingegen noch offen. Sicher ist jedoch, dass die vielen möglichen Konstellationen eine lange Verhandlungszeit bedeuten werden.


Auf der Internetseite bundestagswahl-21.de gibt es eine Auflistung der möglichen Koalitionsvarianten nach der Wahl (nach derzeitigem Stand): https://www.bundestagswahl-2021.de/koalitionen/

Der sympathische Politikwissenschaftler Tarik Abou-Chadi hat mit einigen anderen Forschern empirisch bewiesen, dass das Kopieren rechtpopulistsicher Positionen den europäischen konservativen Parteien keine zusätzliche Wählergunst bringt. Sein veröffentlichtes Paper kostet ein Vermögen, aber er hat netterweise ein Interview in einem Podcast zum Thema gegeben, den es auf Spotify free-for-all zu hören gibt: