Die Vertreter der Europäischen Union waren fassungslos, als das ungarische Parlament am 15. Juni das höchst umstrittene „LGBTQ-Gesetz“ unter der Führung der rechtskonservativen FIDESZ-Partei von Ministerpräsident Viktor Orban mithilfe der rechtsextremen Jobbik beschloss und somit die Rechte ungarischer nicht-heterosexueller Bürger nachhaltig einschränkte. Verständlicherweise, denn das Verbot der Darstellung von Homosexualität gegenüber Minderjährigen in Ungarn verträgt sich eindeutig nicht mit den Grundwerten der EU – ein Vertragsverletzungsverfahren wurde umgehend seitens der Union eingeleitet. Trends hin zu Eingriffen in die Rechte der Bürger, Einschränkungen der Staatsgewalten und verstärkter politischer Korruption wie sie in unserem Nachbarland, aber auch Polen oder Russland zu beobachten sind, wirken oft befremdlich. Die „Orbanisierung“ ist der Republik Österreich allerdings nicht so fremd, wie man vermuten würde. Ein Beitrag über Warnsignale, die man nicht ignorieren darf.
Ein stiller Wandel…
Der Begriff „Orbanisierung“ selbst ist relativ jung. Meist negativ benutzt, versucht man damit verallgemeinernd eine Einschränkung der Demokratie nach dem Vorbild Viktor Orbans zu beschreiben. Exemplarisch dafür steht eine Abänderung des politischen Systems, so wie sie in Ungarn zu beobachten war, in eine autokratische Richtung. In Verbindung mit der stillen Einschränkung der Pressefreiheit und verstärkter politischen Korruption wird so versucht, prinzipiell demokratisch legitimierte Machtpositionen auf eine fragwürdige Art zu festigen. In Ungarn ist dieser Prozess schon über ein Jahrzehnt in Gange: 2012 trat eine neue Verfassung in Kraft, die neben seltsamen begrifflichen Bezugnahmen auf Gott, das Christentum und die Stephanskrone, das Wort „Republik“ aus dem offiziellen Namen Ungarns strich sowie die Auflösung des Parlaments quasi von Orbans Willen abhängig macht. Medienpolitisch schuf Orban eine Aufsichtsbehörde mit weitreichenden Befugnissen und installierte in ihr nur Angehörige seiner FIDESZ-Partei, um die gesamte ungarische Berichterstattung über seine Handlungen kontrollieren zu können. Mehrere Nichtregierungsorganisationen sehen die Pressefreiheit in Ungarn nicht nur schwinden, sondern bewerten sie mittlerweile am schlechtesten innerhalb der Europäischen Union. Abschließend fehlt es auch nicht an politischer Korruption seit der Regierungsübernahme der FIDESZ im Jahre 2010, mehrmals wurde vom Europäischen Amt für Betrugsbekämpfung (OLAF) die Veruntreuung von EU-Fördergeldern durch die ungarische Regierung beklagt. Dass Viktor Orban selbst seit seiner Ernennung zum Ministerpräsidenten zu einem der wohlhabendsten Bürgern des Landes wurde, kann nur ein Zufall sein, oder?
… oder die autoritäre Wende?
Grundsätzlich sollte bei diesen Entwicklungen jeder Freund der westlichen Demokratie umgehend auf die Barrikaden gehen. Die Trends zeigen in Ungarn eindeutig in Richtung Autoritarismus, etwas, dass in der Geschichte unseres Nachbarlandes lange genug praktiziert wurde. Warum aber bäumen sich nicht alle möglichen Kräfte seitens der EU & Opposition gegen die Orbanisierung auf? Die Antwort ist genauso einfach wie besorgniserregend. Die Handlungen der FIDESZ sind durch ihre Wahl und Wiederwahlen demokratisch legitimiert. Orban kontert Kritikern gerne mit dem Argument, er vertrete den lediglichen den Willen des Volkes, dass ihn regelmäßig mit beachtlichen Werten rund um 50% der Stimmen bestätigt. Diesem Muster folgen auch andere Rechtspopulisten in Europa. Putin in Russland oder die PiS-Partei in Polen können sich auf entsprechende Wahlergebnisse stützten, erwähnen dabei aber natürlich nicht, dass politische Gegner eingeschüchtert (Ungarn, Polen) oder gar verfolgt (Russland) werden, die Wahlkampffinanzierung verschleiert wird und die Medienlandschaft so weitgehend unter Kontrolle steht, dass regierungskritische Stimmen kein Gehör finden können. Effektive Maßnahmen der Opposition geschweige denn von Politikern anderer Staaten sind so quasi nutzlos. Was bedeutet diese autoritäre Wende, ausgehend von demokratisch legitimierten Akteuren aber jetzt für unsere Republik?
Nur mal Kurz Orban spielen
Für uns wirkte diese Aufweichung von demokratischen Grundstrukturen, wie bereits erwähnt, lange Zeit eher skurril als lebensnah. Österreichs Gewaltentrennung in Verbindung mit dem ausgeklügelten System von checks-and-balances lässt autoritäre Trends im Keim ersticken – dachten wir. Als dann im Mai 2019 ein innenpolitisches Beben in Form des „Ibiza-Videos“ die Republik erschütterte, wurde klar, wie real eine österreichische Orbanisierung eigentlich ist.
Heinz-Christian Strache sprach in seiner „bsoffenen Gschicht“ davon, dass er „eine Rolle wie Orban“ und eine „Medienlandschaft ähnlich wie der von Orban aufbauen“ will. Der ehemalige Vizekanzler spielt politisch heute allerdings gar keine Rolle mehr, anders als Sebastian Kurz, dem ähnliche Bestrebungen vorgeworfen werden. Der aktuelle Bundeskanzler weiß jedoch im Gegensatz zu Strache, wann und vor allem wie leise man sein muss, wenn man orbanisiert. Statt einer vermeintlichen russischen Oligarchentochter nutzt Kurz vermutlich denen mächtigen österreichischen Milliardär (und bekannterweise Freund von Kurz) Rene Benko, um das Echo im politischen Diskurs zu seinen Gunsten zu verschieben. Dieser hatte Anteile an den zwei größten Tageszeitungen des Landes erworben, um stärker als Miteigentümer tätig zu werden. Seit dem werden wesentlich mehr Regierungsinserate geschaltet und das im exzessiven Ausmaß. Rene Benko profitierte unter dubiosen Umständen beim Kauf einer millionenschweren Immobilie in Wien, das Bezirksgericht wurde eigens für ihn aufgesperrt und der zuständige Beamte von seinem Urlaub „befreit“, um den Kauf abzuwickeln. Der Zusammenhang zwischen Kurz und Benko in diesen Beziehungen sei dahingestellt, es riecht allerdings stark nach dem Austausch von Gefälligkeiten zwischen einem Politiker und einem Unternehmer.
Neben dieser Beeinflussung der öffentlichen Meinung wirft auch die riesige PR-Abteilung des Bundeskanzleramts Fragen auf. Dieser steht ein riesiges Werbebudget zur Verfügung, um Inserate zu schalten, von denen die Finanzierung österreichischer Medien oft grundlegend abhängig ist. Regierungsfreundliche Berichte in Boulevardmedien werden so auf leichtem Wege forciert, die Herausgeber sind schließlich auf das Geld angewiesen. Diese Tendenzen sind auch den NGOs der Welt bewusst: Im Index der Pressefreiheit belegt Österreich zwar einen guten Platz, sind jedoch im Ranking Jahr für Jahr ab.
Hinzukommt der Vorwurf einiger Journalisten und Juristen, die Regierung versuche sie als Reaktion auf Kritik ums Eck einzuschüchtern. Vor allem bei letzteren befindet sich die ÖVP in sensiblen Zonen. Als Chatprotokolle von Sebastian Kurz & seinem „Buddy“ (und Finanzminister) Gernot Blümel bezüglich der Vergabe des Vorstandsposten der milliardenschweren, staatlichen ÖBAG an ihren Freund Thomas Schmid publik wurden und ebendiese von der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) – so wie 6 weitere ÖVP Abgeordnete – ins Visier genommen wurden, versuchte der Bundeskanzler die Staatsanwaltschaft öffentlich einzuschüchtern. „Es hat so viele Verfehlungen gegeben, dass ich glaube, dass es dort dringend Änderungsbedarf gibt“, so Sebastian Kurz über die WKStA. Die Justiz selbst, Opposition sowie etliche Experten werteten dies im Lichte der Ereignisse als massiven Angriff auf die Demokratie und ihre Gewaltentrennung.
„Orbanisierung Light“
Natürlich ist die Frage, ob die ÖVP unter Sebastian Kurz versucht, die Demokratie langsam aber sicher auszuhebeln, äußerst sensibel. Gerade im Hinblick auf die Erste Republik, als die Christlichsoziale Partei unter Engelbert Dollfuß das Parlament aushebelte, um ihren diktatorischen Ständestaat zu errichten, sei gesagt, dass der Vorwurf, man versuche einen neuen Autoritarismus in Österreich zu etablieren, durchaus schwerwiegend ist. Es sind jedoch eindeutig Parallelen zum Vorgehen der Rechtspopulisten in Polen, Russland und Ungarn zu erkennen, wo der Trend hin zu einem autoritären politischen System auch von mehreren Demokratie-Indizes seit Jahren dokumentiert wird. Klar ist jedenfalls: Offensichtliche Warnsignale kann, darf und soll man nicht übersehen. Wenn versucht wird, kritische Journalisten einzuschüchtern, Angriffe auf die Justiz erfolgen oder Postenschacherei bei wichtigen Personalentscheidungen an der Tagesordnung steht, ist es sicher legitim, von einer Art der Orbanisierung zu sprechen, wenngleich sie nicht so fortgeschritten ist, wie in anderen Staaten. „Orbanisierung Light“, quasi.