3. Juni 1934 – Fußball-Weltmeisterschafts Halbfinale in Mailand. Italien gewinnt gegen das klar überlegene österreichische Wunderteam, das einzige Tor des Spiel fällt klar regelwidrig indem einige italienische Spieler gemeinsam den österreichischen Tormann – samt Ball – in sein Tor stoßen. Unzweifelhaft eine „gschobene“ Partie, die dem ÖFB möglichweise den einzigen WM-Titel der Geschichte gekostet hat. Doch anstatt Protest bei der FIFA einzulegen, nahm man die kuriosen Entscheidungen des schwedischen Schiedsrichters Ivan Eklind ohne Gegenwehr zur Kenntnis – zu viel Angst hatten die österreichischen Offiziellen damals vor dem faschistischen Diktator (und gutem Freund Eklinds) Benito Mussolini. In einer geopolitisch angespannten Zeit konnte jegliche Provokation einen gewaltsamen militärischen Akt Mussolinis gegen das kleine Alpenland zur Folge haben. Die politische Beziehung zwischen den Staaten verhinderte damals also den wirksamen Protest gegen rein sportliche Entscheidungen. 87 Jahre später ist die Diskussion um den politischen Fußball als alltägliches Phänomen immer noch nicht abgerissen.
Von Affenlauten und Regenbogenfarben
Die gerade beendete EURO 2020 zeigte auf, wie akut die Frage nach dem unpolitischen Fußball wirklich ist. Regelmäßig konnte man zwischen 11. Juni und 11. Juli im Diskursfeld der Kommentarsektionen verschiedenster sozialer Medien hitzige Diskussionen verfolgen, ob sich sportliche Events wie die Europameisterschaft und politische Statements vertragen, oder aber strikt getrennt werden sollten. Als dann der Kapitän der deutschen Nationalelf, Manuel Neuer, das Spielfeld erstmals mit einer Regenbogenbinde betrat, anstatt der genormten „Respect“-Binde der UEFA, um sich inmitten des Pride-Months gegen Diskriminierung zu positionieren, explodierte die öffentliche Sphäre förmlich: Beschimpfungen, Beifall aber auch seltsame Bitten, politische Statements aus dem Sport rauszuhalten, da es doch um das runde Leder und nicht die Vorgänge außerhalb des Feldes geht, waren auf Twitter und Co. zu lesen. Seltsam deshalb, weil es den organisierten Fußball ohne politische Statements ganz offensichtlich nie gab und vorallem nie geben wird. Wenn nämlich in der italienischer Fußballliga die kontroverse Spielerpersönlichkeit Mario Balotelli zum x-ten mal mit Affenlauten aufgrund seiner Hautfarbe verhöhnt und beledigt wird, handelt es sich dabei genauso um einen Ausdruck des „politischen Fußballs“, wie die alteingesessenen, homophoben Fangesänge in den österreichsichen Stadien, die offen rassistische Ideologie der Fans des israelischen Klubs Beitar Jerusalem oder die ursprüngliche nationalistische Weigerung des AC Milan, Ausländer in ihren Spielbetrieb aufzunehmen.
Politik und Sport wie Ross und Rachel
Einige werden sich fragen, ob ich den Begriff „Politik“ hier nicht sehr weit fasse. Auch in der Politikwissenschaft ist die Auslegung des zentralen, namensgebenden Wortes ein altes Streitthema. Politik muss eigentlich weiter gefasst werden, als die alltägliche Interpretation, denn nicht nur die Vorgänge im Parlament, Landttag oder Stadtrat sind politisch, man denke nur an die bedeutende Rolle von finanzstarken Unternehmen für den Ausgang von Wahlen. Ist nicht auch jedes Argument bei einer Diskussion am Stammtisch im heimischen Beisl, dass jemanden zu einem ideologischen Sinneswandel bringt, eine Art der Politik? Wie politisch ist das Private? Ich denke, die naheliegendste Interpretation ist, dass bereits jede Machtausübung in der zwischenmenschlichen Kommunikation eine Form der Politik ist, das sollte auch jedem Fan bewusst sein, der sich wünscht, der Kapitän seiner Fußballmannschaft würde nicht mit einer Regenbogenflagge um den Arm sein Team auf das Spielfeld führen. Mächtige, seriöse politische Akteure wie Recep Tayyip Erdogan und Silvio Berlusconi machen mit ihrer langjährigen Tätigkeit bei verschiedenen Fußballclubs (Istanbul Basaksehir vergibt sogar die Nummer 12 in Erdogans Ehren nicht mehr) genauso Politik, wie der lokale Stadtpolitiker, der zuerst die Patronanz bei einem Amateurklub in Österreich übernimmt und sich dann mit seinen Freunden beim Klub acht Krügerl aus der Kantine am Sportplatz in die Figur stellt.
Fußballer müssen Vorbilder sein
Die ganze Debatte um den unpolitischen Fußball hat in meinem Kopf mittlerweile relativ wenig Platz. Sport ist ganz einfach politisch, daran wird auch kein polemischer Kommentar unter einem Instagram-Post des deutschen Fußballbundes etwas ändern. Entscheidender ist vermutlich die Frage, wie der organisierte Fußball mit dieser Tatsache umgeht. Das Vorgehen der UEFA, im Falle Manuel Neuers eine Untersuchung einzuleiten, nachdem man sich als europäischer Verband noch vor einem Jahr klar dafür ausgesprochen hat, dass die EURO 2020 bedingungslos im Zeichen von Pride stehen soll, wurde von allen Seiten des politischen Spektrums als weiteres Zeichen vollständiger Inkompetenz wahrgenommen. Besser gemacht hat es der englische Stürmer und absolute Leader der Three Lions, Harry Kane, der sich nach einer Welle rassistischer Beleidigungen gegen die drei Elfmeterschützen Rashford, Sancho und Saka, die allesamt im Finale vergeben haben, sofort und klar schützend an die Seite seiner Teamkollegen gestellt hatte. Genauso klar positionierten sich Neuer mit seinem Statement für eine offenere Gesellschaft oder der deutsche Mittelfeldspieler Leon Goretzka, der nach seinem entscheidenden Tor gegen Ungarn mit dem Symbol für gleiche Liebe, einem aus den Händen geformten Herz, in Richtung einer Gruppe homophober Fans jubelte. Fußballer müssen ihre Vorbildwirkung erkennen und dementsprechend entschlossen ihre Meinung äußern, gerade eine einer Zeit, wo viele Menschen das Gefühl haben, dass politische Entscheidungsträger ihre Statements nach dem allgemeinen Wählerwillen richten und wechseln. Sonst nützt der Mythos des unpolitischen Fußballs vor allem denjenigen, die ihn ziemlich selektiv ihren Zielen nach wahrnehmen.