Niederösterreich ist eine Demokratie… oder?

Frag jemanden, was eine Demokratie ist – er wird es dir sagen können… oder wenigstens, was keine Demokratie ist: China, Nordkorea, Kuba oder vielleicht Russland. Wobei, vielleicht ist Russland ja eine Demokratie? Es gibt Wahlen, es gibt eine gesetzgebende Kammer, die „Duma“, welche unserem Nationalrat durchaus ähnelt und es gibt eine Gewaltentrennung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative. Letztere zumindest am Papier. Bei all diesen entscheidenden Faktoren und den vielen vermeintlich undemokratischen Systemen auf der Welt fragt man sich, was überhaupt eine Demokratie ist und wie man sie messen kann. Dieser Aufgabe haben sich bereits einige PolitikwissenschaftlerInnen angenommen und sind dabei zu teils unterschiedlichen Ergebnissen gekommen, nach deren Veröffentlichung man sich als Einheimischer fragen muss: Ist Niederösterreich eine Demokratie?

Um die Spannung vorweg zu nehmen: Ja, Niederösterreich ist grundsätzlich ein demokratisch organisiertes Bundesland, dessen sind sich die meisten ExpertInnen sicher – für diese Erkenntnis hätte es wahrscheinlich gar keine Expertise gebraucht. Eine kleine Gruppe von DemokratieforscherInnen rund um den Politikwissenschaftler Adam Przeworski würde dieser Meinung allerdings – ähnlich wie das einsame gallische Dorf – widersprechen: Nach dem „Democracy & Dictatorship“ – Index (kurz: DD), welcher, wie der Name schon verrät, von Przeworski zur Klassifikation von Demokratien und Diktaturen entwickelt wurde, kann ein Land nämlich nur dann als demokratisch bezeichnet werden, wenn dessen Regierung & Legislative frei gewählt wird, mehr als eine Partei an diesen Wahlen teilnimmt und es mindestens einen Machtwechsel im gleichen Wahlsystem gab. Mit letzterer Bedingung hätte man bei der demokratischen Einordnung Niederösterreichs ein gewaltiges Problem, denn seit dem Ende des Nationalsozialismus und damit quasi dem Beginn unseres landesweiten Wahlsystems, gab es nie einen Machtwechsel. Vom provisorischen Landeshauptmann im Jahre 1945, Leopold Figl, über Andreas Maurer und Erwin Pröll, bis hin zur aktuellen Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner kamen alle Chefs der niederösterreichischen Landesregierung aus der ÖVP. Zum Vergleich: Auch die Russische Föderation scheiterte bei der Einordnung 2008 im DD-Index an diesem Punkt und wurde in der binären Kategorisierung in der Folge als „Diktatur“ eingestuft. Die anderen Kriterien würde Russland theoretisch (wie auch Niederösterreich) erfüllen, da dort die gesetzgebende Kraft ebenso wie die Exekutive gewählt wird und neben der „Catch-All“-Partei von Präsident Putin „Einiges Russland“ auch andere Parteien zu diesen Wahlen antreten.

Dass das dortige System allerdings wesentlich mehr demokratische Schwächen hat als das niederösterreichische ist ebenso klar, wie die Tatsache, dass eine schlichte binäre Einteilung in Demokratien und Diktaturen nach dem DD-Index viel zu undifferenziert ist, um die demokratischen Unterschiede zwischen Staaten zu erfassen. Der „Freedom in the World“-Index der NGO „Freedom House“ zum Beispiel bezieht neben den politischen Rechten, wie dem aktiven und passiven Wahlrecht, auch das Vorhandensein gewisser Bürgerrechte in seine Interpretation der Demokratien ein und geht dabei nach einem bewertenden Punkteschema vor, um die Unterschiede zwischend den Staaten besser greifbar zu machen. Die Ergebnisse des jährlichen Berichts geben so unter Einbeziehung von Variablen wie Grundrechten, Gleichberechtigung, Pressefreiheit, einer unabhängigen Justiz usw für jeden Staat einen Wert zwischen 1 (gänzlich frei) und 7 (gänzlich unfrei) für die politischen sowie bürgerlichen Rechte an, der grundsätzlich als bester Gradmesser für Demokratie in der Weltpolitik angesehen wird. Indizes wie „Polity“ oder „Varieties of Democracy“, deren Messmethoden zu umfangreich sind, um sie in einem einzigen Blogeintrag zu beschreiben, versuchen hingegen demokratische Strukturen etwas wertfreier zu analysieren. Die Fülle an Messversuchen, welche es in der modernen Zeit gibt, macht es Interessierten jedoch nicht unbedingt leichter zur beurteilen, was denn jetzt eine Demokratie ist und was nicht.

Im Endergebnis unterscheiden sich die Berichte der vier genannten Indizes nämlich teils empfindlich: Während Russland zum Beispiel bei Democracy-Dictatorship als Diktatur gelistet wird, wird es von Polity IV als gemischtes System angesehen. Das afrikanische Land Namibia bekommt von Freedom House zwei Mal den Wert „2“ für die politischen sowie bürgerlichen Rechte und gilt damit als frei, Democracy-Dictatorship sieht das anders und bewertet das System ebenfalls als Diktatur. Die Türkei ist für Polity IV eine Demokratie, Freedom House bewerten den Staat mit den Werten „5“ für die politischen und „6“ für die bürgerlichen Rechte als nicht frei. Dazu muss allerdings gesagt werden, dass es in den genannten Staaten für die meisten Beobachter nicht genau erkenntlich ist, wie demokratisch die inneren politischen Prozesse tatsächlich sind. Hingegen fällt etwa bei den 27 EU-Mitgliedstaaten, den USA oder Australien das Ergebnis immer gleich aus, bei eindeutig autokratischen Systemen wie Weißrussland oder China ebenso. In diesen Fällen kann man den Beurteilungen wohl trauen, ob sich Niederösterreich und Russland auf der demokratischen Ebene wirklich so ähnlich sein sollen, wie es Democracy-Dictatorship postuliert, sei dahingestellt.


Falls wer Interesse an den verschiedenen Indizes für Demokratien gefunden hat, habe ich sie hier nochmal verlinkt:

Freedom House: https://freedomhouse.org/report/freedom-world/2020/leaderless-struggle-democracy

Datensatz Democracy-Dictatorship (DD): https://sites.google.com/site/joseantoniocheibub/datasets/democracy-and-dictatorship-revisited

Polity: https://www.systemicpeace.org/polityproject.html

Varieties of Democracy: https://www.v-dem.net/en/