Wer schon das ein oder andere Jahrzehnt länger auf diesem Planeten weilt als ich, wird sich an eine Zeit erinnern, als es in Österreich als Alternative zu einer Alleinregierung nur die rot-schwarze Koalition gab. Die beiden parteipolitischen Platzhirsche – SPÖ und ÖVP – zeigten zusammen bis Mitte der 1980er Jahre gar so eine Dominanz, dass die Gestaltung der Zweiten Republik quasi nur in ihren Händen lag. Während dieses Machtverhältnis allerdings bei uns mit dem Erstarken des „dritten Lagers“ durch die FPÖ sowie der Integration der Grünen in den Nationalrat langsam ein Ende fand, trotzt das US-amerikanische Zweiparteiensystem – bestehend aus den Demokraten einerseits und den Republikanern andererseits – in der mächtigsten Demokratie der Welt bis zum heutigen Tage jeglichen Trends in diese Richtung. Eine Erklärung für dieses Phänomen liefert, wie schon zuletzt auf diesem Blog, eine klassische Theorie aus der Politikwissenschaft.
Doch bevor ich dir den Spaß mit einer trockenen Analyse anhand des Gesetzes von Duverger vermiese, hier ein kleiner Blick in die Vergangenheit: Als nämlich im Großteil Europas noch autokratische Monarchen den politischen Ton angaben, debatierten in den USA die wichtigsten Köpfe des Landes bereits über das demokratische Grundgerüst ihres noch jungen Staates, die Verfassung. In dieser sollte auch das Wahlsystem festgelegt werden, um zu klären, wie politische Akteure von den Bürgern gewählt werden konnten. Die Variante, für die man sich entschied, war das Mehrheitswahlrecht, das (ganz grob erklärt) denjenigen Kandidaten zum Sieger erklärt, der in einem bestimmten, vorher festgelegten Wahlkreis die meisten Stimmen der Bürger für sich gewinnen kann. Die übrigen angetretenen Kandidaten gehen leer aus, egal wie viele Stimmen sie holen konnten. Im Gegensatz zu diesem „winner takes it all„-Konzept legte man sich in den meisten Demokratien Europas später auf das heute noch verbreitete Verhältniswahlrecht fest, das zum Beispiel die Mandate im heimischen Nationalrat (fast) proportional zu den Stimmanteilen der antretenden Parteien aufteilen lässt, sodass der Wahlsieger nicht alle Sitze, wie beim Mehrheitswahlrecht, erhält. Die Idee der Gründerväter der Vereinigten Staaten, letzteres in der – heute nur schwer änderbaren – Verfassung zu fixieren, prägt das Parteiensystem des Landes bis in die heutige Zeit.
Denn das „winner takes it all“-Prinzip geht mit einigen besonderen, aber logischen Konsequenzen einher. Zum Beispiel ergibt sich für die Wähler in einem Wahlkreis die unangenehme Situation, dass eine Stimme für einen Kandidaten, der zwar den eigenen politischen Überzeugung am ehesten entspricht, sich aber keine großen Chancen auf einen Wahlsieg ausrechnen kann, de facto verloren geht. Dementsprechend tendieren Bürger in solchen Wahlsystemen eher dazu, statt präferierten Underdogs jene Wahlwerbenden zu wählen, die realistische Chancen auf die benötigte Stimmenmehrheit haben und dabei den politischen Überzeugungen des ursprünglich bevorzugten noch am nähesten sind. Die Dynamik, die aus solchen strategischen Wahlentscheidungen entsteht, wurde Mitte des letzten Jahrhunderts als das (oben bereits erwähnte) Gesetz von Duverger bekannt: Identifiziert sich Person A beispielweise am meisten mit den Ideen des Kandidaten der amerikanischen Green Party, muss sie in der Regel damit rechnen, dass dieser keine Chance gegen die zur Wahl antretenden Demokraten und Republikaner hat und wird ihre Stimme eher dem Demokraten geben, damit sie nicht „verloren“ geht. So ist schon vor Jahren die politische Teilung in das breite linke Lager der Demokaten und das nicht weniger breite rechte Lager der Republikaner gefestigt worden.
Von kritischen Beobachtern wird das amerikanische Mehrheitswahlrecht in der Folge oft als undemokratisch bezeichnet. Auf den ersten Blick verständlich, da man vor allem in Europa davon überzeugt ist, dass eine pluralistische Demokratie gerade von einer fächernden Parteienvielfalt lebe. Dass es durch die Tradition der Demokraten und Republikaner, in innerparteilichen Vorwahlen die Kandidaten verschiedener Parteiflügel gegeneinander antreten zu lassen, auch Personen abseits des Mainstreams, die in Europa wohl eigene Parteien gegründet hätten, zu namhaften Ergebnissen in bedeutenden Wahlen geschafft haben, wird dabei leider oft vergessen. Grenzgänger wie Bernie Sanders oder ein gewisser Donald Trump konnten sich so verhältnismäßig einfach in das Rampenlicht der mächtigsten Demokratie der Welt stellen, trotz ihrer Zugehörigkeit zu vermeintlich starren Mainstreamparteien.
Natürlich kann die Dominanz der Demokraten und Republikaner nicht allein anhand des hier beschriebenen Faktors erklärt werden. Genauso auf die anderen, echten Gefahren für die demokratischen Prozesse der USA, wie das Manipulieren von Wahlbezirken durch Gerrymandering oder das veraltete Electoral College, näher einzugehen, würde den Umfang dieses Beitrages sprengen. Die Auseinandersetzung mit dem Mehrheitswahlrecht zeigt jedenfalls, wie hilfreich die Geschichte bei der Erklärung der komplexen Moderne sein kann.
Für einen tieferen Einblick in die angeschnittenen Themenbereiche habe ich wieder eine kleine Literaturliste zusammengestellt:
Meine Inspiration für den Beitrag: „Five myths about political parties“ https://www.washingtonpost.com/outlook/five-myths/five-myths-about-political-parties/2021/04/08/72320d70-97f9-11eb-b28d-bfa7bb5cb2a5_story.html
Ein Mathematischer Beweis für das Gesetz von Duverger: https://authors.library.caltech.edu/81155/
Gerrymandering: „Does gerrymandering cause polarization? https://onlinelibrary.wiley.com/doi/abs/10.1111/j.1540-5907.2009.00393.x
Das amerikanische politische System im Allgemeinen: Hübner, E. (2007). Das politische System der USA. Eine Einführung.